Sokrates, das „Nicht-Wissen“ – und was das alles mit Neuroleadership zu tun hat!

„Ich weiß, dass ich nicht weiß“ ...

... wird als geflügeltes Wort dem Denker und Philosophen Sokrates zugeschrieben.

Sokrates Definition von „Wissen“ scheint also zu sein:
Sich seines „Nicht-Wissen“ im Rahmen des eigenen „Wissen“ bewusst zu sein.
Verändert sich jedoch dieser Rahmen – also der Rahmen, in dem wir „wissen“ - in dem wir ganz genau wissen was richtig ist, was wir wie tun oder zu tun haben, usw., – erkennen wir genau zu diesem Zeitpunkt, was wir eigentlich wirklich wissen – und was wir eigentlich nicht wissen.
 
Eine Geschichte, die für mich die Haltung  von Sokrates gut veranschaulicht, ist seine Verteidigungsrede, als er vor Gericht stand:
Zur damaligen Zeit war es kühn, das Orakel von Delphi zu befragen. Der Freund von Sokrates wagte es trotzdem und stellte dem Orakel die Frage: „Ist jemand weiser als Sokrates?“
Die Antwort des Orakels war: „Es gibt wohl keinen Weiseren.“
Sokrates selbst geriet dadurch in große Verwirrung: Er war sich ja über seine Unwissenheit im Klaren. Es war ihm wichtig, diese Zuschreibung des Orakels zu überprüfen.
Also befragte er Politiker, Dichter, aber auch Handwerker. Er wollte herausfinden, was es mit deren Wissen auf sich habe – ob es noch einen anderen gäbe, der mehr Weisheit habe.
Seine Erkenntnis war:
„Verglichen mit diesem Menschen bin ich doch weiser. Denn wahrscheinlich weiß ja keiner von uns beiden etwas Rechtes. Aber dieser glaubt, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß. Ich dagegen weiß zwar auch nichts – ich glaube aber auch nicht, etwas zu wissen.
Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser:
Dass ich eben das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“

Und jetzt: Zisch, Zack, Boom... Wir reisen aus der Welt von Sokrates mit einer Zeitkapsel wieder zurück in die Zukunft, in das „Corona-Frühjahr“ 2020:

Unsere äußeren Rahmen, die Lebens-, Unternehmens- und Arbeitsbedingen, änderten sich abrupt und gravierend. Durch die massiven Veränderungen erkennen wir hautnah, was wir wissen, aber in erster Linie auch: was wir nicht wissen.
 
Welche Einsicht haben wir als Führungskräfte also zwischenzeitlich zu unserem „Wissen“ und unserem „Nichtwissen“ – und der damit verbundenen Unsicherheit – gewonnen?
 
Nehmen wir die Unsicherheit des „Nicht-Wissen“ an, halten wir sie aus, und lernen, mit all den Widersprüchlichkeiten umzugehen? Worauf kommt es dabei an?

Hierzu „bekanntes Wissen“ aus der Neurobiologie bzw. dem Neuroleadership:

Sobald sich für uns Menschen die Außenfaktoren verändern, erleben wir eine Unsicherheit. Besser gesagt: unser Gehirn erlebt diese „Unsicherheit“.
Das Gehirn ist überwiegend sozial ausgerichtet. Soziale Interaktionen aktivieren Gehirnregionen und lösen Reaktionen aus, die entweder mit Unwohlsein, Bedrohung, Vermeidung oder mit Wohlbefinden, Freude, Glück vergleichbar bzw. verknüpft sind.
„Erleben von Unsicherheit“ bedeutet dabei aus neurobiologischer Sicht: Unser Bedrohungssystem wird aktiviert. Wir fühlen uns schlecht und haben das Bedürfnis, dieses Unsicherheitserleben zu verringern. Wir wollen wieder Kontrolle erlangen.

Die biochemische Reaktion führt leider auch allzu oft zu einem erhöhten Kontrollbedürfnis, also dem Versuch, die Unsicherheit reduzieren und Komplexität vereinfachen zu wollen: Meist sind das aber Bewältigungsstrategien, die uns regelmäßig scheitern lassen, auch auf Kosten der eigenen Leistung und der eigenen Gesundheit.
Zu beobachtende Verhaltensweisen sind dann z.B. (lt. Gallup Studie von Führungskräften):

  • Über Stress zu reden wird mit produktiver Arbeit verwechselt.
  • Unter Zeitdruck stehen wird als „Wichtig sein“ aufgefasst.
  • Der Umfang investierter Zeit wird als gutes Ergebnis interpretiert.
  • Unhöflichkeit wird mit Zeitdruck legitimiert.
  • Desinteresse am Mitarbeiter wird mit der Priorisierung von Aufgaben begründet.

Das Wissen über biochemische Reaktionen, die das menschliche Verhalten steuern, können wir uns in der modernen Führung auch zu Nutze machen – und uns in Situationen des „Nichtwissens“, d.h. der Unsicherheit, an den „Bedürfnissen des Gehirns“ orientieren.

Übersichtlich dargestellt sind die „Bedürfnisse des Gehirns“ in den Faktoren des SCARF-Modells aus dem Neuroleadership:

S wie STATUS
= Das Bedürfnis, im Vergleich zu anderen Menschen „bedeutsam“ zu sein.
Als Führungskraft sollten Sie sich immer die Frage stellen: Verhalte ich mich in der Führung so, dass meine Mitarbeiter wirklich „spüren“, dass sie als Person, mit ihren Bedürfnissen, für mich (und das Unternehmen) bedeutsam, wichtig und relevant sind?
 
C wie CERTAINTY
= Das Bedürfnis zu wissen und zu verstehen, was in Zukunft auf mich zukommt.
Führe ich so, dass meine Mitarbeiter in der Lage sind, zukünftige Entwicklungen – und Veränderungen – zu sehen, zu verstehen und bezüglich ihrer Tätigkeit einordnen zu können?
 
A wie AUTONOMY
= Das Bedürfnis, Kontrolle über die Umwelt ausüben zu können bzw. die Wahl zwischen Alternativen zu haben.
Stellen Sie sich die Frage: Wie kann ich klare Richtung geben und dabei gleichzeitig sicherstellen, dass meine Mitarbeiter in der Lage sind, selbstbestimmt zwischen Handlungsalternativen wählen zu können?
 
R wie RELATEDNESS
= Das Bedürfnis, sich mit anderen Gruppenmitgliedern verbunden zu fühlen bzw. sich mit einer Gruppe, einem Team, der Organisation zu identifizieren.
Was tun Sie in Ihrem Führungsverhalten, dass in Ihrer Mannschaft ein Zusammenhörigkeitsgefühl entsteht und sich weiter erhöht, damit keiner aus der Gruppe „herausfällt“ oder „am Rand steht“?
 
F wie FAIRNESS
= Das Bedürfnis, selbst genauso wie die anderen behandelt zu werden.
Ein letzter, immens wichtiger Faktor in der Führung: Wie kann ich durch mein Führungsverhalten sicherstellen, dass sich Mitarbeiter – trotz unvermeidlicher Unterschiede – alle fair (bzw. „gerecht“) behandelt fühlen?
 
Das Modell aus dem Neuroleadership zeigt deutlich zwei Dinge:
Entscheidend sind nur wenige Grundsätze, um bei Mitarbeitern Engagement und Sicherheit zu erhalten. Aber auch: Diese Faktoren immer voll zu erfüllen, ist eine Herausforderung – vor allem in den unsicheren Zeiten von eigenem „Nichtwissen“ in der Führung.

Unser Appell:
Nehmen Sie diese fünf Faktoren im Moment sehr bewusst als „Richtschnur“, um Ihre Mitarbeiter (und sich selbst) weiterhin leistungsfähig und leistungsbereit zu halten!

Am Ende bleibt der Mensch als Führungskraft und deshalb eine Bitte an Sie:

1. Bleiben Sie offen gegenüber sich selbst, sowohl gegenüber Ihren eigenen Gedanken, als auch Ihren eigenen Emotionen. Vor allem auch gegenüber Ihren eigenen Schwächen und Defiziten. Bewusste Selbstwahrnehmung hilft bei der eigenen Selbstakzeptanz.

2. Beobachten Sie die Wirkung, die Sie mit Ihrem Verhalten in der Interaktion mit Mitarbeitern erzielen. Holen Sie sich ehrliches Feedback von Menschen ein, denen Sie vertrauen.

3. Bleiben Sie authentisch und transparent. Kommunizieren Sie mit Ihren eigenen Schwächen. Sich seiner Schwächen bewusst zu sein,  ist das Gegenteil von schwach zu sein – es ist Ihre Stärke. Bauen Sie deshalb Ihre Schwächen in Ihre Kommunikation mit ein, wie z.B. „Du kennst mich ja ... “ „…forsch wie ich bin…“ „Da bin ich mir jetzt nicht sicher / das weiß ich jetzt auch nicht – die Sache ist mir jedoch sehr wichtig…“

4. Bleiben Sie mutig in Ihrer Offenheit und Authentizität. So erreichen Sie Ihre persönliche Glaubwürdigkeit und fühlen sich wohl damit.

5. Entwickeln Sie für sich selbst einen Katalog mit für Sie hilfreichen Fragen, die Sie persönlich fördern – Fragen in eine positive Richtung, wie z.B. „Wann fühle ich mich in der Kommunikation am wohlsten?“ „Welche Rahmenbedingungen passen für mich?“ „Wann bin ich richtig gut?“ „Wann kann ich meinen Fokus halten?“ etc.

6. Jetzt ist Ihre Zeit. Es gibt keine bessere Zeit für Sie und Ihre Vorhaben!
Nur im „Doing“ werden aus Vorhaben persönliche Erfahrungen, die sich wiederum in Ihrer Führungspersönlichkeit manifestieren werden.

7. Machen Sie sich Ihr „Nichtwissen“ zum Freund: Akzeptieren Sie es bewusst – und arbeiten Sie damit!

Seien Sie herzlich gegrüßt, als Mensch und als Führungskraft,

Gabriele Ella und Bernhard Freudenstein