Wie schaffen wir es, die eigene Verantwortung so gut zu verdrängen?

Wie verhalten wir uns als Gesellschaft in der Pandemie?
Wie sieht es mit unserer eigenen Verantwortung aus?

Wie Daten der Corona-Warn-App-Nutzung zeigen, tragen weniger als 2/3 der positiv auf Corona getesteten App-Nutzer ihr Testergebnis auch in die App ein – obwohl ihnen die App völlige Anonymität sicherstellt. Das Ziel der App, die möglicherweise betroffenen Kontaktpersonen zu warnen, wird damit zuverlässig konterkariert…


Es heißt, Krisen machen den inneren Zustand einer Gesellschaft sichtbarer:
Das, was die Gesellschaft zusammenhält, tritt deutlicher zutage. Und ebenso zeigen sich alltägliche Egoismen, verborgene Bruchlinien, Abgrenzungstendenzen, Misstrauen.
Dazu kommen wir, als individuelle Menschen: Mit unserem menschlichen Gehirn, dessen unbewusster Teil gerne kurzfristig denkt, zum Verdrängen neigt, zum Verharren in der „Komfortzone“. Das macht die gesellschaftliche Überwindung der Krise nicht leichter.

Hierzu ein anschauliches Beispiel:
Letzten Spätsommer. Ein bayerischer Grenzort zu Tschechien. Die Infektionszahlen in Tschechien und Deutschland sind ähnlich hoch. Im besagten Dorf sind sie jedoch ungewöhnlich hoch – nur, woher kommt das?
Die Bürgermeisterin, die die Gewohnheiten ihrer Gemeinde kennt, im Erklärungsversuch:
Die Menschen kennen sich im Ort. Man trifft sich auf dem Markt, stellt sich zusammen, auf ein Gespräch, einen „Klatsch & Tratsch“, über dies und das, und wie schlimm grade alles ist.
Ein denkbares, verantwortliches Verhalten wäre: Sich testen lassen und so eine nachvollziehbare, kontrollierbare Situation zu schaffen. Tatsächlich verhalten sich in der Realität viele Menschen jedoch deutlich anders: „Ach, da wird schon nichts sein. Ich passe ja auf. Und die, die ich gut kenne, die mir vertraut sind, haben das sicherlich auch nicht".
Eine vorherrschende oberste (unbewusste) Priorität scheint zu sein:
Wie „stehe ich da“, vor den anderen? Vor meinen Nachbarn, Freunden, Bekannten, sogar vor mir selbst? Diese Priorität leitet in der Folge das Verhalten: "Am besten wissen weder ich noch andere, ob ich Corona habe."

Denn, was wären die zu erwartenden Konsequenzen? 

  • Meine Nachbarn, mein ganzes Dorf, die ganze Welt würde schlecht über mich denken und schlecht über mich reden.
  • Ich könnte mich nicht mehr am Marktplatz frei unterhalten. Ich würde im schlimmsten Falle ganz ausgegrenzt werden, man macht einen Bogen um mich.

Im gleichen Moment: Gespräche am Dorfplatz, Gespräche über positiv getestete Menschen, Verurteilungen von „unsozialem“ Verhalten. Und vor allem der Verweis auf „die Politik“, nicht genügend für die Menschen zu tun. Bei einzelnen ist sogar eine sehr bewusste individuelle Abwägung zu hören: „Wieso sollte ich mich testen lassen – das hätte doch nur negative Folgen für mich!“ 

Diese Gewissheit wäre mir unangenehm, ich müsste entscheiden, ob ich es melde. Und sollte ich es melde, könnte ich nicht mehr zur Arbeit, hätte vielleicht finanzielle Ausfälle. Ich müsste meine Bewegungsfreiheit einschränken, könnte nicht mehr zu meinen Freunden. Da ist es doch besser für mich, es nicht genau zu wissen: dann hat es keine Konsequenzen.

Wie schaffen wir es, genau dann, wenn es wirklich darauf ankommt, die eigene Verantwortung so gut zu verdrängen?
Im Verlauf der Krise haben sich bei vielen die Priorisierung unserer Werte und daraus resultierendes Verhalten zumindest zeitweilig verändert, so scheint es.

Die Bertelsmann Stiftung spricht darüber in einer wissenschaftlichen Untersuchung tiefenpsychologischer Interviews „Die Corona-Krise und Strategien der Bewältigung“ und erkennt bislang zwei Phasen:
 
In Phase 1 geht es um die aktive Bewältigung der eigenen Ohnmachtserfahrung.

Nicht selten wird, nach einer ersten Schreckstarre, die empfundene Ohnmacht durch aufgeregten Aktionismus bekämpft, der sich z.B. in Hamsterkäufen manifestiert und ausverkauftes Toilettenpapier oder leere Nudelregale verursacht. Das Ausführen strenger Hygieneregeln wie häufiges Händewaschen und Desinfizieren, sowie auch Entrümplung des Kellers oder neue persönliche Rituale, wie z.B. morgendlicher Sport, helfen zur „Wiedergewinnung“ der eigenen Handlungsfähigkeit.

Nach einigen Wochen ist jedoch die persönliche Handlungsfähigkeit mehr und mehr ausgeschöpft. Und trotzdem bleibt das unschöne Gefühl, dem Virus und seinen Konsequenzen nicht entkommen zu sein. Soziale und wirtschaftliche Folgen der Krise werden zudem deutlicher spürbar…

Dies hat den Übergang in eine Phase 2 zur Folge. Ein zweiter Bewältigungsmechanismus gegen das bestehende Ohnmachtsgefühl tritt in den Vordergrund: Widerstand.

Die Angemessenheit von Maßnahmen wird immer mehr hinterfragt (und bezweifelt), Rufe nach Lockerung werden immer lauter. Das führt leider immer mehr dazu, dass wirtschaftliche, soziale und medizinische Argumente gegeneinander ausgespielt werden und „Gerechtigkeitsfragen“ formuliert werden: Wem wird mehr geholfen, wem weniger? Wer profitiert von der Krise oder ist sogar ein Krisengewinner? Wer kommt zuerst dran, wer muss warten?

Und genau das lässt uns leider alle zu „Verlieren“ der Krise schrumpfen – denn: ich kann in dem, was andere haben, immer einen irgendwie gearteten Vorteil herbeizitieren. Wir machen uns dadurch vor allem selbst zu Opfern.

Vor allem schadet dieser „Widerstand gegen alles“ der sachlichen Diskussion, dem Blick nach vorne, der Suche nach echten, tragfähigen Lösungen.

Prof. Harald Welzer formulierte das einmal sehr treffend:
"Wenn hinreichend Leute Unsinn erzählen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass plötzlich und irgendwann alle Unsinn erzählen.“
 
Schlimmer noch: Wenn sich z.B. die Politik dann nur noch an der angespannten Stimmung orientiert, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich „Unvernunft“ bei „potentiellen Wählern“ noch weiter verstärkt:
„Ich will jetzt aber! Am besten Öffnung, mit allem, und alles … und mit scharfer Soße!“

Bitte den hier gemeinten ohnmächtigen Widerstand nicht verwechseln mit der sachlichen, berechtigten Kritik an organisatorischem und sozialem Fehlverhalten, das natürlich angesprochen werden darf und soll, lösungsorientiert – aber das würde leicht mehrere weitere Artikel füllen…

Unser heutiger Appell an Sie als Führungskraft, die Sie in dieser Unsicherheit und hoher Veränderungsdynamik ganz besonders unter Beobachtung stehen und gefordert sind:
 
Verantwortliches Handeln bzw. seine Eigenverantwortung annehmen bedeutet, genau jetzt, für jede Führungskraft, für jeden Menschen: Bereitschaft zur echten Selbstreflexion.

Nur wer sich selbst gut kennt, seine ganz persönlichen Werte und Grenzen, wer für seine Stärken und Schwächen sensibilisiert ist, der vermag in der Situation, wie wir sie jetzt erleben, seine individuellen und gemeinschaftlichen Risiken am besten einzuschätzen – und sein Verhalten entsprechend anzupassen: Verantwortlichkeit zeigen.  
Denn alle Menschen sind in der Lage zu lernen, sich neues oder verändertes Verhalten anzueignen. Auch ohne dadurch ihre Persönlichkeit an den Haken zu hängen.

Wir ermuntern Sie deshalb, in dieser Krise die Chance zu nutzen, Ihre individuellen Werte und Stärken neu zu reflektieren: Vielleicht erlangen Sie gerade jetzt ganz neue Einsichten über sich und Ihre eigenen Überzeugungen. Und möglicherweise zeigen sich auch neue oder bekannte „schwache Punkte“, auf die Sie dann bei sich achten könnten. Damit sie gut durch die Krise kommen und gleichzeitig einen Nutzen für „die Zeit danach“ ziehen.

Für sich selbst – und auch für andere, ihre Mitarbeiter, Kollegen, Nachbarn. Gute Vorbilder setzen bewusste, positive Impulse. Sie sorgen dafür, dass ihr Verhalten „ansteckt“ und übernommen wird. So prägen sie die Werte und Kultur im Unternehmen – konstruktiv, kooperativ und wertschätzend.

Wer selbst ein positives Vorbild gibt, der braucht keine negativen Vorbilder bemühen!

Finden Sie Ihren guten Weg,
erhalten Sie sich eine positive Haltung und bleiben Sie gesund!
Gabriele Ella und Bernhard Freudenstein